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Zusammenfassung des Webinars | Gaza am Rande des Abgrunds: Israels völkermörderische Absichten *
Erstellt von: Huda Abudagga and Hadeel Mubarak || Nachbearbeitung durch: Iman Zueiter
Übersetzt von: Laura Brandt
Forum „Jurist*innen für Palästina“ (Ausgabe 2)
Allgemeine Informationen:
Basil Suorani: Ein Zeuge aus Gaza – PCHR Raz Segal: Außerordentlicher Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Stockton University und Stiftungsprofessor für das Studium des modernen Völkermordes. Arnesa Buljusmié-Kustura: Genozidforscherin und -überlebende, Autorin von „Briefe aus der Diaspora“. Maha Abdallah: Forscherin in der Forschungsgruppe Recht und Entwicklung, Universität Antwerpen. Huda Abudagga: Rechtsforscherin aus Gaza, ihre Familie lebt in Gaza.
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Einführung durch die Moderatorin:
Noura Erekat:
In den letzten Tagen sind wir Zeug*innen des Völkermordes geworden, den Israel am palästinensischen Volk im belagerten Gazastreifen begeht.
Hochrangige israelische Vertreter*innen haben Erklärungen mit völkermörderischer Absicht abgegeben und ihnen Taten folgen lassen, die dem palästinensischen Volk vorsätzlich Lebensbedingungen auferlegen, die auf dessen physische Vernichtung abzielen, was dem Verbrechen des Völkermords im Sinne des Völkerrechts gleichkommt.
Dies ist kein Einzelfall, sondern eine Fortsetzung der schwerwiegenden systematischen Ungerechtigkeiten, denen das palästinensische Volk seit über einem Jahrhundert ausgesetzt ist.
Die vor Ort tätigen UN-Organisationen, palästinensische zivilgesellschaftliche Organisationen sowie andere internationale Organisationen und Expert*innen dokumentieren die sich abzeichnende humanitäre Katastrophe, einschließlich der wahllosen Bombardierung der Zivilbevölkerung und der zivilen Infrastruktur, der Unterbrechung der Wasser- und Stromversorgung, der Verweigerung der Einfahrt von humanitären Konvois mit Lebensmitteln, Medikamenten, Treibstoff und anderen für das Überleben der Bevölkerung notwendigen Gütern sowie der erzwungenen Vertreibung der Palästinenser*innen in Gaza.
Die UN-Sonderberichterstatterin für die Situation der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten, Francesca Albanese, hat davor gewarnt, dass wir möglicherweise Zeug*innen einer Wiederholung der Nakba von 1948 und der Naksa von 1967 werden.
Da Israel seinen völkermörderischen Feldzug gegen das palästinensische Volk fortsetzt, zielt dieses Webinar darauf ab, Akademiker*innen und andere Rechtsexpert*innen auf dem Gebiet des Völkermordes zusammenzubringen, um die aktuelle Situation in Gaza zu erörtern und sie in den breiteren Kontext der Siedlerkolonie in Palästina einzuordnen.
Dieses Webinar, das von Law For Palestine, AlHaq, Almezan Centre for Human Rights, Palestinian Centre for Human Rights und Arab Renaissance for Democracy and Development organisiert wurde, beschäftigt sich mit den rechtlichen Inhalten der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes/des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), Art. 6, mit der Anwendung der Völkermordkonvention/des Römischen Statuts auf den aktuellen israelischen Angriff auf den Gazastreifen und den weiteren palästinensischen Kontext sowie mit den Verpflichtungen von Drittstaaten und der internationalen Gemeinschaft im Allgemeinen, die palästinensische Bevölkerung vor Völkermord zu schützen.
Beiträge der Referent*innen
Basel Sourani (Sprachaufzeichnung)
– Die Lage in Gaza ist äußerst schwierig. Vor drei Tagen musste ich zusammen mit meinen Familienangehörigen im Süden des Gazastreifens in der Stadt Khan Younis Zuflucht suchen, da die israelische Armee die Bevölkerung von Gaza-Stadt und dem nördlichen Gazastreifen angewiesen hatte, in den Süden zu auszuweichen. Dort habe ich das Büro von PCHR aufgesucht.
– Sichere Orte gibt es leider nicht. Zivilist*innen und zivile Gebäude werden im Norden und im Süden gleichermaßen angegriffen. Es ist einfach eine Lüge. Die Szenen der Zerstörung auf meinem Weg nach Khan Younis waren erschütternd.
– Zehntausende Palästinenser*innen, deren Häuser und Träume von den israelischen Besatzungstruppen zerstört wurden, fliehen in ihren Autos, in großen Lastwagen und auf Eselskarren, um ihr Leben zu retten. Einige der Menschen legten die ganze Strecke sogar zu Fuß zurück.
– Ich habe Hunderte von Menschen gesehen, die seit 6.00 Uhr morgens vor den Bäckereien anstanden, um Brot zu bekommen. Es gibt eine Wasser- und Weizenkrise.
– Viele Menschen haben aufgrund der Entscheidung des israelischen Verteidigungsministers nicht geduscht, kein Wasser getrunken und keinen Zugang zu Wasser.
– Die Menschen essen und trinken sogar so wenig wie möglich, um nicht auf die Toilette gehen zu müssen und Wasser zu benutzen, weil das Wasser sehr knapp ist.
– Es gibt keinen Strom. Wir sind praktisch von der ganzen Welt abgeschnitten. Wir bekommen keine Nachrichten.
– Israel bombardiert weiterhin Wohnhäuser, und die Zivilbevölkerung befindet sich im Auge des Sturms.
– Niemand ist sicher, Journalist*innen, Gesundheitspersonal und Krankenwagen wurden angegriffen und getötet.
– UNRWA-Schulen wurden angegriffen, obwohl die Menschen dachten, dass dies die sichersten Ort seien.
– UNRWA-Lagerhäuser wurden von den israelischen Besatzungstruppen im nördlichen Gazastreifen bombardiert. Dies ist regelrechte eine kollektive Bestrafung und ein Krieg, der gegen das palästinensische Volk geführt wird.
– Ich beschloss, nach meiner Evakuierung zurückzukommen, weil ich keine zweite NAKBA erleben möchte. Wir wollen in unseren Häusern bleiben, uns gegen diese unrechtmäßige Besetzung wehren und nicht zulassen, dass sich eine zweite NAKBA wiederholt.
– Es hat mir das Herz gebrochen, Zehntausende auf der Flucht zu sehen, und wir hoffen, dass es einen sofortigen Waffenstillstand gibt und dass humanitäre Hilfe zugelassen wird. Wenn schon keine humanitäre Hilfe, dann zumindest Wasser, wir riskieren die Ausbreitung verschiedener Krankheiten unter den Menschen.
– Nicht alle sind in den Süden geflüchtet, hunderttausende Palästinenser*innen befinden sich noch immer in Gaza-Stadt und im nördlichen Gazastreifen und weigern sich, ihre Häuser und ihr Land zu verlassen.
– Wir riskieren, dass immer mehr Verbrechen gegen das palästinensische Volk verübt werden.
– Ein sofortiger Waffenstillstand ist notwendig und wir wollen, dass die internationale Gemeinschaft sofort eingreift, um dieser Situation ein Ende zu setzen.
– Es ist auch wichtig zu betonen, dass es den Menschen aufgrund der hohen Zahl von Opfern, der Sicherheitslage vor Ort und der ständigen Bombardierung aller Gebiete im Gazastreifen durch Israel nicht möglich ist, ihre Angehörigen zu beerdigen, und die Leichenhallen sind überfüllt. Die Leichen werden entweder auf dem Boden oder auf Eiswagen liegen gelassen.
Raz Segal:
– Als Wissenschaftler in der Holocaust- und Völkermordforschung und als Wissenschaftler der jüdischen Welt waren die Lehren aus dem Holocaust, wenn man dieses Vokabular verwenden möchte, natürlich nie dazu gedacht, staatliche Gewalt und Völkermord zu decken.
– Die Lehren aus dem Holocaust sollten Gruppen vor staatlicher Gewalt und Völkermord schützen, insbesondere wehrlose Gruppen wie die Palästinenser*innen, die seit Jahrzehnten unter kolonialer Herrschaft von Siedler*innen, unter militärischer Besatzung und unter Belagerung leben.
– Die Lehren aus dem Holocaust sollten diejenigen vermenschlichen, die mit staatlicher Gewalt konfrontiert sind, und was wir heute sehen, was wir gerade gehört haben, die Gewalt und die Berichte aus dem Gazastreifen sind entsetzlich.
– Wir erleben eine Entmenschlichungskampagne ungeahnten Ausmaßes gegen Palästinenser*innen auf der ganzen Welt, bei der die Palästinenser*innen das Gefühl haben, dass ihr Leben keine Rolle spielt und ihr Tod keine Bedeutung hat. Ihre Geschichte wird nicht beachtet, und ihre Stimmen und Perspektiven haben keinen Platz.
– In den letzten Jahren hat sich in der Holocaust- und Völkermordforschung ein Wandel vollzogen, was das Thema der israelischen Massengewalt gegen Palästinenser*innen angeht, und was wir jetzt vor unseren Augen sehen, ist die sich entfaltende völkermörderische Gewalt gegen die Palästinenser*innen und den Gazastreifen.
– In den letzten Tagen gab es eine Reihe von Erklärungen, in denen eine beträchtliche Anzahl von Holocaust- und Völkermordforscher*innen, einschließlich jüdischer Holocaust- und Völkermordforscher*innen, Erklärungen über den sich entfaltenden Völkermord in Gaza unterzeichnet haben.
– Ich denke, dass dies sehr bedeutsam ist, denn das Problem der Entmenschlichung, mit dem wir jetzt konfrontiert sind, basiert zu einem großen Teil auf Stellungnahmen Israels:
- Der ehemalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett bezeichnete in einem Wutanfall während eines Interviews das, was Israel gerade tut, als einen Kampf gegen Nazis.
- Die Verwendung der Erinnerung an den Holocaust durch Israel zur Rationalisierung, Rechtfertigung, Verzerrung, Leugnung und zum Abstreiten der israelischen Massengewalt gegen Palästinenser*innen hat eine lange Geschichte.
- 1982 verglich der israelische Premierminister die Kämpfe in Beirut während des israelischen Angriffs auf den Libanon mit dem gegen Hitler in seinem Bunker in Berlin.
- In 2015 verzerrte der israelische Ministerpräsident Netanjahu die Geschichte des Holocausts, indem er behauptete, die Palästinenser*innen seien eine treibende Kraft hinter Hitlers Krieg gegen die Juden*Jüdinnen gewesen, was natürlich eine völlige Geschichtsverdrehung ist.
- Und nun wird in der gesamten israelischen Politik die Idee verkündet, dass wir gegen Nazis kämpfen, und wenn wir gegen Nazis kämpfen, ist alles erlaubt, es gibt kein Gesetz, und man kann alles tun, was man will und was nötig ist, um die Nazis zu besiegen.
- Am 9. Oktober verkündete der israelische Verteidigungsminister die vollständige Belagerung des Gazastreifens und erklärte weiter: „Der Gazastreifen wird nicht mehr so sein, wie er vorher war, wir werden alles zerstören“.
- Ein Sprecher der israelischen Armee betonte, dass „der Schwerpunkt auf Schaden und nicht auf Genauigkeit liegt“. Der Grund dafür ist die Vorstellung, dass wir gegen Nazis kämpfen.
– Deshalb glaube ich übrigens, dass wir eine so unverhohlene und explizite völkermörderische Absicht sehen. In den allermeisten Fällen äußern sich Völkermörder*innen nicht auf diese Weise.
– Jetzt sieht man Menschen, bei denen man sich das vor 10 Jahren nicht hätte vorstellen können, solche Erklärungen unterschreiben (die von dem Völkermord sprechen, der sich gerade in Gaza entwickelt).
– Dieser Wandel ist bedeutsam, weil Akademiker*innen und insbesondere Akademiker*innen, die sich mit Holocaust- und Völkermordstudien befassen, dem Diskurs über den Holocaust in der ganzen Welt Legitimität verleihen.
– Es gibt auch viele Überschneidungen zwischen Akademiker*innen, die sich mit Holocaust- und Völkermordstudien befassen, und staatlichen Instituten für die globale Erinnerung an den Holocaust. Diese Dimension ist also sehr wichtig.
– Der einzige andere Fall, der mir einfällt, bei dem es einen solchen Diskurs gibt, ist der jüngste russische Angriff auf die Ukraine, bei dem auch Ukrainer*innen von Putin in den russischen Medien als Nazis dargestellt wurden; und zwar als explizite Nazis im dem Sinne, dass es sich in dieser russischen Wahrnehmung eigentlich um eine Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs und des Kriegs gegen die Nazis handelt.
– Die Bilder, die aus dem Gazastreifen kommen, ähneln sehr den Bildern, die wir während des russischen Angriffs auf die Ukraine in ukrainischen Städten gesehen haben.
– Ich kann Ihnen sagen, dass ich in den letzten Tagen viele, viele Unterstützungsmails bekommen habe zu dem, was ich geschrieben und gesagt habe, auch von Juden*Jüdinnen, die sich auf ihre Eltern und Großeltern berufen, die den Holocaust überlebt haben, weil die Menschen diesen plumpen entmenschlichenden Diskurs sehen, der die Menschen, die Massengewalt ausgesetzt sind, zu Täter*innen und Nazis macht.
– Und etwas in diesem Gerüst hat begonnen zu zerbröckeln, mit diesem Gerüst meine ich diesen Bezugsrahmen, der auf der Erinnerung an den Holocaust basiert, in dem Israel aufgrund seiner selbsternannten Identität als jüdischer Staat wie ein Sonderfall erscheint, was natürlich von vornherein ein ausschließender Bezugsrahmen ist, aber dieser auf dem Holocaust basierende Bezugsahmen ist ein großes Element davon.
– Es ist definitiv diskursiv, aber mit politischen Implikationen, welche Israel Straffreiheit verschaffen; und ich denke, dass sich in diesem Bezugsrahmen etwas zu verschieben und zu brechen beginnt, und ich denke, es ist bedeutsam und hat mit Russlands Krieg in der Ukraine zu tun.
– In diesem Zusammenhang denke ich an den russischen Krieg in der Ukraine, weil dies auch ein Fall ist, in dem wir eine beispiellose Bereitschaft seitens westlicher Mächte und westlicher Kommentator*innen und Wissenschaftler*innen auf diesem Gebiet gesehen haben, wieder von Völkermord im russischen Krieg gegen die Ukraine zu sprechen.
– Aufgrund dieser eindeutigen Verbindung zwischen dem, was Russland in der Ukraine tut, und Israels Krieg gegen den Gazastreifen sehe ich eine Chance für diese Art von Veränderung auf dem Gebiet, die wir wiederum daran erkennen, dass immer mehr Menschen die Erklärungen mit ihrem Namen unterschreiben.
– Dieser Wandel unter Holocaust-Forscher*innen geht auf den entmenschlichenden Diskurs zurück, den alle beobachten, weil die Wissenschaftler*innen in der Holocaust- und Völkermordforschung die Perspektiven derjenigen berücksichtigen, die von Völkermord betroffen sind. Dies ist natürlich in der Holocaust-Gemeinschaft verwurzelt und Juden*Jüdinnen, die wie ich zum Holocaust forschen, und insbesondere Juden*Jüdinnen, die den Holocaust erforschen, stellen die Perspektive der Holocaust-Opfer und Holocaust-Überlebenden in den Mittelpunkt.
– Die Situation, die sich jetzt vor unseren Augen abspielt, ist unerträglich und “business as usual” und Holocaust- und Völkermordstudien als Fachgebiet sind meiner Meinung nach nicht mehr möglich. Das liegt an den Überschneidungen mit den Instituten für Holocaust-Erinnerung und an der Legitimität, die das Fach und die Wissenschaftler*innen diesen Instituten und der Idee von Israel als Ausnahmestaat und der Straffreiheit, die es genießt, verleihen, und auch daran, wie der Holocaust in den USA, Großbritannien und der EU als politisches und identitätsstiftendes Thema fungiert.
– In vielerlei Hinsicht sehe ich meine Rolle darin, diesen Wandel voranzutreiben, in erster Linie, um Palästinenser*innen als Menschen darzustellen, ihre Stimmen, ihre Perspektive, ihre Erfahrungen, ihre Geschichte in den Mittelpunkt zu stellen, um alles zu tun, was möglich ist, um den Völkermord, der sich vor unseren Augen abspielt, zu stoppen.
– Ich denke, der wichtigste Weg, dies zu stoppen, besteht darin, die Völkermordperspektive jetzt in den Mittelpunkt zu stellen, genau wegen all dem, was ich gesagt habe, aber auch, um diesen Wandel in den Holocaust- und Völkermordstudien voranzutreiben.
Arnessa Buljusmic-Kustura:
– Ich bin selbst Überlebende eines Völkermords und habe den größten Teil meines Lebens damit verbracht, nicht nur über den bosnischen Völkermord, sondern natürlich auch über andere Völkermorde und ethnische Säuberungen in der Vergangenheit und Gegenwart zu sprechen.
– Die Situation in Gaza ist in jeglicher Hinsicht entsetzlich und für mich erinnerten diese Bilder auf schreckliche Weise an meine eigene Erfahrung, unter Belagerung zu leben und zu sehen, wie mein Zuhause zerbombt wird.
– Ich glaube, viele haben Schwierigkeiten damit, das Wort Völkermord im Zusammenhang mit dem zu akzeptieren, was derzeit in Gaza geschieht.
– Genau wie gerade Gaza war auch Bosnien vier Jahre lang unter Belagerung. Wir waren vom Rest der Welt abgeschnitten, vom Wasser, von Hilfsgütern, Lebensmitteln, Strom und allem anderen. Wir wurden täglich wahllos bombardiert.
– An manchen Tagen wurden, glaube ich, bis zu 2000 Granaten von serbischer Seite abgeschossen. Es wurden Scharfschützen eingesetzt, die direkt auf Zivilist*innen zielten.
– Gleichzeitig gab es in bestimmten Gegenden Serbiens massive Kampagnen zur ethnischen Säuberung und zum Völkermord sowie massive Umsiedlungen und Vertreibungen. So wie wir es jetzt in Gaza erleben.
– Der Völkermord von Srebrenica wurde vor dem IStGHJ (Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien) zum Völkermord erklärt und als solcher und nicht nur als Kriegsverbrechen geahndet.
– [Taten] In mehrere anderen Gemeinden und Orten wurden jedoch nicht als Völkermord verurteilt, sondern lediglich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder als Kriegsverbrechen.
– Der Grund, warum ich das erwähnt habe, ist, dass es für uns unglaublich wichtig ist, den soziologischen Aspekt von Völkermord in einen Kontext zu setzen, und zwar genau dann, wenn wir uns mit der Definition von Völkermord befassen:
„Es ist die Absicht, eine Gruppe aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, religiösen Identität, Nationalität oder anderer Identitätsmerkmale ganz oder teilweise zu zerstören.“
– Als Überlebende eines Völkermords und als jemand, die einen Großteil ihres Lebens damit verbracht hat, über Erniedrigung und Völkermord sowie den Holocaust zu sprechen und diese Zusammenhänge herzustellen, ist das, was derzeit in Gaza geschieht, wirklich ein Paradebeispiel für Völkermord.
– Wenn man die sozialen Medien öffnet und Regierungschef*innen sieht, die zur vollständigen Ausrottung aufrufen und sagen, dass sie den Gazastreifen von der Erde tilgen werden, sie als menschliche Tiere bezeichnen und andere schreckliche Dinge sagen, dann ist es, glaube ich, sehr klar, dass es sicherlich einen Aspekt der völkermörderischen Absicht gibt.
– Noch bevor der Krieg in Bosnien begann, besprachen sie die Belagerung von Sarajevo. Radovan Karadžić[1] hat gesagt: „Es gibt 300.000 Muslime in Sarajewo, sie werden alle tot sein“, und die anderen Führer sagten: „Gut, tötet alle Muslime.“
– Das war ein bewusster Ausdruck von Völkermord. Ihr Ziel war es in diesem Fall, die bosniakische oder bosnisch-muslimische Bevölkerung auszurotten, und das taten sie wiederum, indem sie das Wasser und den Strom abstellten sowie die Lebensmittel stoppten und wahllos bombardierten. All diese Dinge geschehen derzeit in Gaza.
– Ich möchte auch darauf hinweisen, dass ich eine entmenschlichende Sprache erwähnt habe, und ich weiß, dass das, was derzeit in Gaza geschieht, schrecklich ist, aber es ist wichtig, alle daran zu erinnern, dass dies nicht erst letzte Woche begonnen hat. Das passiert schon seit über 70 Jahren der Besatzung.
– Aber besonders in den letzten zehn bis zwanzig Jahren, würde ich sagen, wurde eine offen entmenschlichende Sprache verwendet, und eine offen entmenschlichende Sprache führt letztendlich zu Völkermord.
– Wir haben das beim Holocaust gesehen. Wir haben es im Fall des bosnischen Völkermordes gesehen, wir wurden nicht aus dem Nichts heraus bombardiert.
– Der Völkermord kam nicht aus heiterem Himmel, es bedurfte jahrelanger Planung, und vor allem bedurfte es der Hingabe besonders hochrangiger ethnonationalistischer Führer, um die Menschen davon zu überzeugen, dass wir entmenschlicht werden sollten, dass wir Tiere seien, dass wir nur Islamisten seien, dass wir sie töten würden, wenn sie uns nicht loswerden, dass wir alle ihre Töchter zwingen würden, einen Hidschab zu tragen, weil wir Muslim*innen sind und sie nicht.
– Diese Art von Rhetorik ist nicht ungewöhnlich, wenn es um Fälle von Völkermord geht. Es ist offensichtlich eine der wichtigsten Phasen, wenn man es wirklich in Erwägung zieht, und die offen entmenschlichende Sprache zu hören, die mit so viel Inbrunst in den Medien von Regierungsvertreter*innen und auch von normalen Menschen verwendet wird, ist entsetzlich und führt uns zu dem Punkt, an dem wir uns jetzt befinden, nämlich der Tatsache, dass das, was in Gaza geschieht, ein Völkermord ist.
– Ich war noch ein Kind, als der Krieg und der Völkermord in Bosnien begannen, aber ich erinnere mich noch gut an die Bomben, den Hunger, die Scharfschützen, die Angriffe und den Schrecken. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung in Gaza Kinder sind.
– Kinder wie ich, die einfach nur versuchen, ihr Leben zu leben, und die stattdessen mit Gewalt, Bombenangriffen und Schrecken in einem so schrecklichen Ausmaß konfrontiert werden und das ist für mich Furcht einflößend.
– Wir sehen aktiv dabei zu, wie sich der Völkermord auf unseren Telefonen und Fernsehbildschirmen abspielt. Wir sehen zu, wie Menschen den Völkermord an einer Gruppe von Menschen bejubeln.
– Ich weiß, dass einige sagen werden, dass dies alles die Schuld der Hamas ist und dass sie nicht auf die palästinensische Bevölkerung abzielen, sondern auf die Hamas, aber das könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein.
– Dies ist ein klassischer Fall einer Ausrede, die leicht benutzt werden kann, damit sie die Verbrechen begehen können, die sie gerade begehen.
– Sie greifen unschuldige Menschen an, sie greifen Zivilist*innen an, und sie verhängen eine Kollektivstrafe gegen die Menschen.
– Ich möchte klarstellen, dass Bosnien und Palästina keine identischen Fälle sind, weil es so etwas wie einen identischen Fall von Völkermord oder Krieg nicht gibt, egal wer es ist, aber es gibt genug Ähnlichkeiten.
– Für mich sind die beunruhigenden Ähnlichkeiten wirklich die entmenschlichende Sprache und die fast stolzen Proklamationen der völkermörderischen Absichten.
– Ich denke, die Menschen sollten sich wirklich einen Moment Zeit nehmen und innehalten und versuchen, sich daran zu erinnern, dass vor nur 30 Jahren der Völkermord in Bosnien stattfand, was bedeutet, dass vor nur 30 Jahren auf unseren Fernsehbildschirmen oder zumindest auf den Fernsehbildschirmen der Menschen im Westen eine ähnliche Rhetorik verbreitet wurde.
– Es gab auch damals Leute, die den Menschen in Bosnien vorwarfen, sich selbst zu verteidigen. Es gab Leute, die der Meinung waren, dass sie nichts tun müssten, dass sie ihre Stimme nicht erheben müssten, dass es am Ende des Tages keine Rolle spiele oder dass es nur jemandem weit weg passierte, aber ich war nicht jemand, die weit weg war, [sondern jemand] der es passierte.
– Die Menschen in Palästina sind jetzt diejenigen, denen es passiert und die wahllos bombardiert werden, die von medizinischer Hilfe, von Strom, Wasser und Lebensmitteln abgeschnitten sind.
– Ich meine, die Hungersnot hat bereits begonnen. Es gibt massenhaft Berichte darüber, dass den Menschen das Wasser ausgeht und die wenigen Lebensmittel, die ihnen noch geblieben sind.
– Ich kann mir das nicht ansehen und sagen, dass es sich um etwas anderes als Völkermord handelt, und ich weiß, dass es einige geben wird, die diesbezüglich Bedenken äußern werden, die mich dafür kritisieren werden, und das ist in Ordnung.
– Offensichtlich gibt es hier einen Aspekt verschiedener anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es gibt einen Aspekt der ethnischen Säuberung, der gewaltsamen Vertreibung, was Israel derzeit versucht, aber sie versuchen nicht nur, die Palästinenser*innen gewaltsam zu vertreiben. Sie tun dies und bombardieren sie wahllos, während sie sie vom Rest der Welt und allem, was ihnen helfen könnte, abschneiden.
– Als jemand, die den bosnischen Völkermord überlebt hat, liegt mir dieses Thema sehr am Herzen, und diese Zeit meines Lebens war so einschneidend, dass ich den Rest meines Lebens der Aufklärung über die Schrecken des bosnischen Völkermords und der Aufklärung darüber, wozu Entmenschlichung führt, gewidmet habe.
– Derzeit haben wir in Bosnien ein Problem mit Ethnonationalismus. Wir haben ein Problem mit der Leugnung des Völkermords, wir haben ein ethnisch gespaltenes Land, also ist der Völkermord für mich ein Prozess, der weitergeht.
– Es spielt keine Rolle, ob ein Mensch oder hunderttausend Menschen getötet werden. Was zählt, ist die Absicht, die dahinter steckt.
– Auch wenn während des Holocausts nur 30 Menschen getötet worden wären, wäre es trotzdem ein Völkermord gewesen, denn so funktioniert Völkermord. Die Absicht muss vorhanden sein, die Absicht zu zerstören, der Versuch, ganz oder teilweise zu zerstören, indem man nicht nur tötet, sondern auch die Situation und ihre Umstände so schrecklich macht, dass sie nicht überleben können.
– Der Völkermord in Bosnien und Palästina unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Bosnien war nicht 75 Jahre lang besetzt, aber wir wurden vier Jahre lang von einem Aggressor belagert.
– Es gab willkürliches Töten, es gab Massaker. In einer einzigen kleinen Stadt wurden innerhalb kürzester Zeit über 8.000 Menschen ermordet.
– Ich glaube, was mich in diesem Moment so erschüttert, ist die Tatsache, dass ich eine Wiederholung der gleichen Art von Taten sehe, die in Bosnien geschehen sind.
– Sind sie auf dem gleichen Niveau? Nein. Sind sie genau dasselbe? Nein, aber sie sind ähnlich genug, dass ich mich gezwungen fühle, darüber zu sprechen.
– Ein Element der Bildungsarbeit zum Holocaust ist das „Nie wieder“ und leider geschah nach dem Holocaust Bosnien und dann sagten wir „Nie wieder“ und dann geschah Ruanda und wir sagten „Nie wieder“. So viele andere Völkermorde sind geschehen und wir sagen immer wieder „Nie wieder“ und wir schweigen, während sie geschehen, nur um dann zurückzuschauen und lauthals zu verkünden: „Nie wieder“. Nun, „Nie wieder“ ist jetzt.
– Wir alle haben die Verantwortung, unsere Stimme zu erheben, Druck auf unsere politischen Vertreter*innen und Regierungen auszuüben und uns an die Seite des palästinensischen Volkes zu stellen.
Maha Abdallah:
– Seit letztem Samstag haben wir eine Zunahme öffentlicher, schamloser Äußerungen israelischer Vertreter*innen gehört, die auf völkermörderische Absichten und potenzielle völkermörderische Handlungen hinweisen, darunter Massaker, groß angelegte, vorsätzliche Zerstörungen, Zwangsvertreibung und Zwangsumsiedlung von Palästinenser*innen, die Israel unerbittlich und erbarmungslos angreift.
– Über 2 Millionen Menschen werden mittlerweile seit 17 Jahren in einem Freiluftgefängnis gefangen gehalten; wir alle haben die vielen Erklärungen der israelischen Entscheidungsträger*innen gehört oder gelesen, die die Palästinenser*innen ausdrücklich entmenschlicht haben, indem sie sie als „menschliche Tiere“ bezeichneten und zur Vernichtung der Palästinenser*innen, insbesondere im Gazastreifen, aufriefen.
– Ein israelisches Parlamentsmitglied hat die Regierung kürzlich ausdrücklich aufgefordert, eine weitere NAKBA gegen die Palästinenser*innen im Gazastreifen und anderswo durchzuführen, „eine, die die NAKBA von 1948 in den Schatten stellen wird“, so seine Forderung.
– In den Medien ruft ein israelischer Journalist dazu auf, Gaza in ein Schlachthaus zu verwandeln.
– Auf israelischen Straßen wurden Transparente mit Slogans angebracht, die zur Massenvernichtung des Gazastreifens und zur Vernichtung der Bewohner*innen des Gazastreifens aufrufen.
– Solche Aufrufe wurden auch in den Vereinigten Staaten und in Europa laut, wo einige Vertreter*innen öffentlich die weitgehende Zerstörung des Gazastreifens ohne Rücksicht auf Menschenleben, Menschenwürde und die Regeln des Krieges oder des Völkerrechts unterstützten.
– Es ist auch wichtig, daran zu erinnern, dass die vergangene Woche keineswegs der Beginn einer Praxis und Politik ist, die seit langem darauf abzielt, die Palästinenser*innen zu entmenschlichen, gewaltsam zu entfernen und zu eliminieren, wo auch immer sie sich aufhalten mögen, und es wird sicherlich auch nicht das Ende sein.
– Vor etwa neun Monaten rief der israelische Finanz- und Verteidigungsminister öffentlich dazu auf, das gesamte Dorf Huwara in Nablus auszulöschen, während israelische Siedler*innen unter dem Schutz der israelischen Streitkräfte Programme gegen palästinensische Gemeinden und Städte im gesamten Westjordanland durchführen, indem sie Zwangslagen schaffen und ihre Vertreibung und Umsiedlung erzwingen.
– Seit seiner Gründung und sogar schon davor hat Israel als ein militarisiertes Siedlerkolonialregime, das von seinen politischen, militärischen und religiösen Vertreter*innen repräsentiert wird, dafür gesorgt, dass Palästinenser*innen im internen und externen Diskurs sowie in den Medien, Schulbüchern u.a. als barbarisch und gewalttätig, aber auch als primitiv, rückständig, kriminell, terroristisch und niederträchtig dargestellt werden.
– Der Zionismus hat einen völkermörderischen Krieg gegen das palästinensische Volk geführt, seitdem erklärt wurde, dass „Palästina leer ist“, und seitdem behauptet wurde, dass „es ein Land ohne Volk gibt, für ein Volk ohne Land“, wodurch die Existenz eines ganzen Volkes geleugnet und seine kollektive soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Geschichte, seine Bindungen und Rechte untergraben wurden.
– Die UN-Sonderberichterstatterin über die Menschenrechtslage in den besetzten palästinensischen Gebieten hat es in ihrem ersten Bericht an die UN-Generalversammlung im vergangenen Jahr so formuliert: „Es ist die Logik der Eliminierung, die Israels koloniales Siedlerprojekt in Palästina antreibt und die darauf abzielt, alle Spuren und Ausdrucksformen der palästinensischen Existenz zu beseitigen“.
– Das Ergebnis dieser jahrzehntelangen Bemühungen ist die Errichtung einer zionistischen israelisch-jüdischen Vorherrschaft, institutionelle Diskriminierung, Rassismus und Herrschaft über das palästinensische Volk, das unterdrückt, absichtlich zersplittert und daran gehindert wird, sein Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen.
– Palästinenser*innen warnen seit Jahrzehnten vor dem System der Apartheid.
– Genau dieses Regime der Vorherrschaft und der strukturellen Gewalt, das in der zionistischen Ideologie und dem Staat Israel verankert ist, rechtfertigt den Prozess der Vernichtung des palästinensischen Volkes, sowohl im physischen als auch im ideellen Sinne, von Gaza über Jerusalem bis hin zur Naqab (Negev), der im Laufe der Jahre mit verschiedenen Methoden vorangetrieben wurde.
– Diskriminierung, Verfolgung, Segregation, Apartheid, Zwangsumsiedlung und Entmenschlichung sind die wichtigsten Merkmale und Voraussetzungen für Völkermord.
– Sie bildeten die Grundlage, auf der Israel jahrzehntelang die Enteignung und Tötung des palästinensischen Volkes in großem Maßstab durchführte, indem es das palästinensische Volk ins Visier nahm und ihm physischen Schaden zufügte.
– Während die Debatten darüber, ob die Bezeichnung als Völkermords rechtlich oder faktisch korrekt ist, weitergehen, gibt es klare Warnungen und Symptome, die sich in der gegenwärtigen brutalen Realität vor Ort zeigen, wie bereits erörtert wurde, schließt das die auferlegte vollständige Belagerung, die Unterbrechung der Versorgung mit Wasser, Strom, Medikamenten und Internet in Gaza, die alle für das menschliche Überleben unerlässlich sind, sowie die öffentlich beabsichtigte groß angelegte Zerstörung von Gaza und seiner Bevölkerung unter dem Deckmantel der Selbstverteidigung ein.
– Es ist daher die Pflicht aller relevanten Akteure der internationalen Gemeinschaft, unverzüglich einzugreifen und Sofortmaßnahmen zu ergreifen, um im Einklang mit den entsprechenden Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention und anderen einschlägigen Instrumenten des Völkerrechts einen Völkermord zu verhindern und den andauernden schweren Verstößen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die gegen das palästinensische Volk verüb werden, ein Ende zu setzen. Staaten müssen ein für alle Mal davon absehen, solche rechtswidrigen Handlungen zu unterstützen und zusammenarbeiten, um sie zu beenden, anstatt sie zu feiern und zu bejubeln.
– Drittstaaten haben auch die Pflicht, dafür zu sorgen, dass Israel von der weiteren Aufstachelung zum Völkermord und von Handlungen absieht, die nach Artikel 2 der Völkermordkonvention verboten sind.
– Die Staaten müssen gemäß Artikel 8 der Völkermordkonvention handeln und die zuständigen Organe der Vereinten Nationen, d.h. die Vollversammlung und den Sicherheitsrat sowie das Büro der Vereinten Nationen für die Verhütung von Völkermord auffordern, die geeigneten Maßnahmen zur Verhinderung von Völkermord zu ergreifen.
– Die Rolle der UN-Vollversammlung ist in diesem Moment besonders wichtig, auch in Anbetracht der Dynamik der Vetomächte im Sicherheitsrat und der Resolution der Vollversammlung von 1982, in der die Massaker von Sabra und Shatila als Völkermord verurteilt wurden.
– Aufgrund der Völkermordkonvention ist der Internationale Gerichtshof zuständig.
– Die Vertragsstaaten der Völkermordkonvention können den Gerichtshof einschalten, wie im Falle der laufenden Verfahren Gambia gegen Myanmar und Ukraine gegen Russland.
– In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass der Staat Palästina seit 2014 Vertragspartei der Völkermordkonvention ist und daher gemäß Artikel 9 der Völkermordkonvention sowie in Anbetracht der israelischen Stellungnahmen und Handlungen, insbesondere seit dem 7. Oktober dieses Jahres, ein Verfahren vor dem IGH im Zusammenhang mit der Verhinderung von Völkermord einleiten kann.
– Was den Internationalen Strafgerichtshof anbelangt, so dürfen die Ankläger*innen angesichts der laufenden Verfahren in Bezug auf die Lage in Palästina vor dem IStGH und der Tatsache, dass Völkermord nach dem Römischen Statut in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt, nicht davor zurückschrecken, die strafrechtliche Verantwortung einzelner Personen in diesem Zusammenhang zu untersuchen.
– Es gibt keinen Mangel an Informationen oder Wissen darüber, was in den letzten 100 Jahren in Palästina geschehen ist, und über all die Verletzungen und internationalen Verbrechen, die verübt wurden.
– Was es jedoch gibt, ist ein Mangel an politischem Willen, Selektivität und Doppelmoral seitens der internationalen Mächte, wenn es darum geht, wie sie in diesem Fall handeln oder nicht handeln, um die Menschenrechte, das Völkerrecht und Verantwortungsübernahme zu achten und zu schützen.
– Dies stellt nicht nur eine Gefahr für das palästinensische Volk, seine Rechte und seine Existenz dar, sondern auch für die Glaubwürdigkeit, die Wirksamkeit und die Effektivität des internationalen Rechts und der internationalen Ordnung.
Huda Abudagga:
– Um darüber zu reden, wie sich dieser Angriff von dem 51-tägigen Angriff auf den Gazastreifen im Jahr 2014 unterscheidet.
– Meine Familie, meine Stadt liegt im Südosten des Gazastreifens. Die gesamte Stadt wurde am zweiten oder dritten Tag des Angriffs evakuiert.
– Meine Stadt ist derzeit eine der Geisterstädte und selbst wenn Leute dorthin gehen, um Kleidung oder das Nötigste zu holen, erzählen sie, dass die Lage schlecht ist, alles ist zerstört.
– Die wichtigsten Gebäude der Stadt sind zerstört, aber letztendlich sagen wir, solange die Menschen am Leben sind, zumindest bis jetzt, ist es kein Problem. Wir werden Gaza wieder aufbauen.
– Ich denke, der beste Weg, um zu beschreiben, dass dies schlimmer ist als der Angriff von 2014, auch wenn der Angriff von 2014 schrecklich war, es war einer der längsten Angriffe auf Gaza und dauerte 52 Tage. Auch während dieser Zeit, ich glaube, zwei oder drei Wochen nach Beginn des Angriffs, musste meine Familie ihre Gebiete ebenfalls verlassen. Wir haben so etwas gewissermaßen schon einmal erlebt, aber dieses Mal ist es noch eine Million Mal schlimmer.
– Seit dem ersten Tag des Krieges haben wir etwa 14 Menschen aus meinem erweiterten Familienkreis verloren, nur ein 11-jähriges Mädchen und ihr Onkel haben überlebt.
– Die Evakuierungen in 2014 waren viel kürzer und die Angriffe richteten sich in der Regel eher gegen militärische Einrichtungen.
– Jetzt gerade werden Familien ausgelöscht, ganze Stadtteile werden zerstört. In Gaza, zum Beispiel, meiner Stadt, ist jede Nachbarschaft der Sitz einer ganzen Familie, wenn man also ein Stadtviertel zerstört, zerstört man eine ganze Familie. Wenn man dieses Viertel evakuiert, muss die ganze Familie gehen.
– Als meine Familie gehen sollte, zögerten viele von ihnen, weil sie wirklich nicht wussten, wohin sie gehen sollten, denn, wie ich schon sagte, befindet sich die ganze Familie in einem Gebiet, sie haben also keine Familie, zu der sie gehen könnten.
– Wenn man anordnet, dieses Gebiet zu evakuieren, vertreibt man eine ganze Familie, es sei denn, sie haben Freund*innen oder Kolleg*innen, und selbst wenn sie evakuiert werden, sind sie nicht sicher.
– Diesmal ist das Ausmaß der Bombardierung viel größer als 2014, und die Absicht oder die Art und Weise, wie sie es tun, zielt eindeutig darauf ab, so viele Menschen wie möglich zu verletzen und zu töten, so wie sie Häuser voller Menschen bombardieren.
– Im Moment werden 47 Familien aus dem Melderegister gestrichen, wir reden hier von Familien mit 10, 15 Mitgliedern.
– Etwas, das die Sache noch verschlimmert, ist die Tatsache, dass sie Nachrichten hören, dass sie nach Ägypten evakuiert werden sollen.
– Sonst haben die Menschen in irgendeiner Form Hoffnung, dieses Mal wissen sie wirklich nicht, was passieren wird.
– Hinzu kommen all die verhängten Blockaden. Ich habe Familienmitglieder, die sich von Tee und Keksen ernährt haben, und jetzt können sie nicht einmal mehr Tee trinken, weil ihnen der Brennstoff ausgegangen ist.
– Ein anderer Zweig meiner Familie hat ein Haus weit weg von unserer Gegend gemietet und lebt buchstäblich von den Lebensmitteln, die sie alle zwei Tage von den Familien in der Umgebung bekommen. Und ich spreche hier nicht von ein oder zwei Personen, sondern von Familien mit 7-15 Mitgliedern.
– Im Moment empfinden wir die Angriffe von 2014, 2012 und 2008 als normale Angriffe im Vergleich zu diesem. Im Vergleich zu dem, was wir jetzt durchmachen, würden wir alle lieber zu den Angriffen von 2014 zurückkehren.
– Essen war noch nie ein Thema. Für sie. In Gaza kommen immer Hilfsgüter an, die Menschen helfen sich gegenseitig mit Lebensmitteln. Aber dieses Mal wird sogar das Essen zu einer Herausforderung. Es wird zu einem Problem. Die meisten Grundbedürfnisse werden zu etwas, das ihren Kampf verschlimmert. Von Strom und Wasser wollen wir gar nicht erst reden.
– Diese massive Zerstörung ganzer Stadtteile findet normalerweise nicht in diesem Ausmaß statt. AlRimal, zum Beispiel, ist das eleganteste Viertel in Gaza, eines der bevölkerungsreichsten, mit allen wichtigen Universitäten, Geschäften und Einkaufszentren. Es ist der Ort, an den die Menschen gehen, um ihre Zeit zu genießen oder einzukaufen. Im Moment liegt dieser Ort in Trümmern.
– Sie bombardieren die zentralen Bereiche, die wichtigsten Bauwerke in jedem Gebiet. Sogar meine Stadt konnte ich nicht wiedererkennen, als wir Videos von ihr sahen. Ich schaute zu und erkannte sie erst wieder, als ich ein Bauwerk sah, das den Namen meiner Stadt trug an dem sie zu erkennen war.
– Es sind nicht einmal nur Massaker. Sie löschen jede Identität der Palästinenser*innen aus. Alles, was die Gebiete, die Städte ausmacht, wird zerstört. Es ist ein wahnsinniges Ausmaß an Zerstörung und Massakern, das sich derzeit vor Ort abspielt.
– Wir wissen wirklich nicht, wie es weitergehen wird. Wir wissen nicht, ob wir Gaza jemals wiedersehen werden.
– Das ist vielleicht eines der schwierigsten Dinge, die es zu verarbeiten und ertragen gilt, der Gedanke, dass die eigene Existenz aus diesem Gebiet ausgelöscht werden wird.
– Dieses Gebiet wird dir nicht mehr gehören, oder du wirst kein Recht haben, es zu besuchen oder zu sehen oder in deinem Haus oder auf deinem Land zu leben.
–
Kommentare und Fragen & Antworten
F1: Halten Sie es für wahrscheinlich, dass israelische Vertreter*innen und Angehörige der israelischen Armee für diese Aussagen und Angriffe zur Rechenschaft gezogen werden? Es ist unwahrscheinlich, dass Israel seine eigenen Soldat*innen vor ein Kriegsgericht stellt. Wird der Internationale Strafgerichtshof also eingreifen und hier eine Rolle spielen? Zweitens, und damit zusammenhängend, würden Waffenlieferungen, wie sie die USA vornehmen, nach internationalem Recht eine Mitschuld bedeuten?
Antwort der Referent*innen:
- Maha Abdullah
– Nein, ich glaube wirklich nicht, dass irgendwelche israelischen Vertreter*innen oder Militärs für ihre Aussagen oder Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden.
– Das hat sich bisher in den letzten sieben oder acht Jahrzehnten bewiesen und leider haben Israel und andere Akteure in Israel, ob als Vertreter*innen der Regierung oder des Militärs, für all die Verstöße und Gräueltaten, die sie gegen das palästinensische Volk begangen haben, weitestgehend Straffreiheit und Schutz durch die internationale Gemeinschaft genossen. Wir haben erlebt, wie Ermittlungsprozesse und Verfahren verzögert und aufgeschoben wurden, sei es vor dem Internationalen Strafgerichtshof oder in den Organen der UN im Verlauf der verschiedenen Mechanismen und so weiter.
– Es gibt eine klare Voreingenommenheit, eine klare Selektivität und Doppelmoral in der Art und Weise, wie die internationale Gemeinschaft, insbesondere der westliche Teil der internationalen Gemeinschaft, beschlossen hat, das Völkerrecht in der Palästina-Frage und in Bezug auf das palästinensische Volk zu handhaben, zu nutzen und anzuwenden.
– Das trägt nicht dazu bei, Gerechtigkeit zu schaffen, es trägt nicht dazu bei, die Grundrechte der Palästinenser*innen zu erfüllen und deshalb wird es sicherlich nicht dazu beitragen, den Frieden zu schaffen, den alle anstreben.
– Was die Rolle von Waffen und Rüstungsunternehmen betrifft, so ist dies ein besonders wichtiger Moment, um die entsprechenden Stellen und Unternehmen sowie die verschiedenen relevanten Akteure aufzufordern, den Waffenhandel mit Israel zu stoppen und die Staaten aufzufordern, dies ebenfalls zu tun und ein Militärembargo zu verhängen.
- Noura Erekat
– Was die Politisierung des IStGH betrifft, so habe ich eine Vielzahl von Anfragen erhalten, wie wir das Recht in diesem Moment nutzen können.
– Ich möchte die Zuhörer*innen darauf hinweisen, dass wir im Moment kein Vertrauen in das Gesetz und die Rechtsinstitutionen haben sollten.
– Der Ankläger Kareem Khan hat kürzlich erklärt, dass er strafrechtlich gegen die Hamas vorgehen und gegen sie ermitteln wird, und zwar genau in dem Moment, in dem ein Völkermord im Gange ist und eine eindeutige völkermörderische Absicht vorliegt.
– Dies sollte uns daran erinnern, dass seit der Gründung des IStGH im Jahr 2004 fast alle Angeklagten afrikanische Staatsoberhäupter waren, afrikanische und arabische Staatsoberhäupter, und deshalb haben mehrere Länder sogar ihre Unterschrift zum Römischen Statut zurückgezogen oder damit gedroht, ihre Unterschrift unter dem Römischen Statut von 1998 zurückzuziehen.
– Damit soll nicht gesagt werden, dass wir es nicht nutzen können und dass es keinen Fall gibt. Wir sollten den Fall einbringen.
– Es gibt auch Wege für die Jurist*innen da draußen, die universelle Jurisdiktion (Weltrechtsprinzip) für Einzelpersonen zu nutzen.
– Die Völkermordkonvention zieht nicht nur Regierungsvertreter*innen, sondern auch Einzelpersonen zur Rechenschaft, was sie von fast allen anderen internationalen Verträgen unterscheidet.
– Auch Einzelpersonen, einschließlich der Medien, die diese völkermörderischen Absichten geschürt haben, sollten sich daher bewusst sein, dass auch sie das Risiko einer solchen Strafverfolgung tragen.
F2: Sind Sie der Meinung, dass sich die völkermörderischen Absichten auf die derzeitige israelische Regierung beschränken, oder erstrecken sie sich über weitere Bereiche des politischen Spektrums?
Antwort der Referent*innen:
- Raz Segal
– Ich denke, dass die Frage des Völkermords in Palästina eine Frage ist, die über die letzten 15 Jahre hinweg diskutiert und in der Geschichte des israelischen Staates und der Massengewalt gegen die Palästinenser*innen seit 1948 debattiert wurde.
– Es gibt einen Konsens über Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression, über militärische Besatzung, über Belagerung, über viele andere internationale Straftaten, aber nicht über Völkermord, bis zu diesem aktuellen Angriff auf Gaza.
– Was wir jetzt in der israelischen Politik und Gesellschaft erleben, zieht sich durch alle Bereiche der Kultur, der Medien und der sozialen Medien.
– Jeder, der hebräischsprachige Quellen in den Medien und in den sozialen Medien verfolgt, wird feststellen, dass es überall zu hören ist. Völkermörderische, explizite, unverhohlene, völkermörderische Sprache ruft zu völkermörderischen Tötungen auf.
– Ich denke, dass diese Sprache derzeit viele der üblichen politisch-ideologischen Grenzen und Linien in der israelischen Politik und Gesellschaft überwindet.
– Gallants (israelischer Verteidigungsminister) spezifischer Sprachgebrauch über die vollständige Belagerung, ist meines Erachtens für unsere Diskussion über Völkermord sehr wichtig, weil der internationale Rechtsrahmen eine andere Sache ist, aber ich denke, dass Gallant die 17-jährige Belagerung des Gazastreifens, die nach dem humanitären Völkerrecht bereits illegal war, die längste – und das ist sehr wichtig – die längste Belagerung dieser Art in der modernen Geschichte ist, in eine vollständige Belagerung verwandelt hat.
– Das ist an sich schon ein Zeichen für völkermörderische Absichten, vor allem, weil man nirgendwo mehr hin kann. Wir haben gerade eine neunmonatige Belagerung von Bergkarabach erlebt.
– Wir alle haben die ethnische Säuberung von Bergkarabach vor unseren Augen miterlebt und diese Menschen haben alles verloren. Sie haben ihre Gesellschaft, ihr Leben, ihre Kultur, ihre Häuser verloren,
alles, aber sie hatten einen Ort, an den sie fliehen konnten – nach Armenien. Die Palästinenser*innen und die Bewohner*innen des Gazastreifens können nirgendwohin fliehen.
– Das hier ist dringend, das Thema des völkermörderischen Angriffs durch Israel, und ich glaube, dass es heute viele Grenzen und Linien in der israelischen Politik, Gesellschaft und Kultur durchdringt.
F3: War die völkermörderische Absicht in Bosnien etwas, das sich schon vor dem Krieg abzeichnete, oder etwas, das im Laufe der Jahre als Versuch aufgebaut wurde, die Bosnier*innen tatsächlich loszuwerden? Bist Du der Meinung, dass der Prozess mit der Situation der Palästinenser*innen in Gaza und anderswo vergleichbar ist?
- Arnesa Buljusmic-kustura
– Was die Frage betrifft, ob der Völkermord plötzlich stattfand oder ob es Jahre gedauert hat, dahin zu kommen, er war nicht plötzlich, er wurde langsam geplant und langsam enthüllt.
– Natürlich war der Völkermord in Bosnien eine Folge der Auflösung Jugoslawiens und der Unabhängigkeitserklärungen der einzelnen Republiken wie Bosnien, aber Bosnien war nicht das erste Land, das angegriffen wurde.
– Es gab Versuche von serbischer Seite, ich glaube, es war zuerst Slowenien, dann Kroatien und dann Bosnien anzugreifen.
– Bis zum eigentlichen Angriff schmuggelten sie Waffen ins Land. Sie schürten die Wut. Sie verbreiteten Propaganda. Die Absicht hinter der Zerstörung war also definitiv schon vor dem Beginn des Völkermordes vorhanden.
– Und ja, ich sehe hier Ähnlichkeiten mit Gaza. Wie ich bereits gesagt habe, sind sie in vielerlei Hinsicht nicht gleich. Es gibt große Unterschiede zwischen Palästina und Bosnien. Wir sprechen hier von einer 75 Jahre andauernden Besatzung. Im Laufe der Jahre gab es viele verschiedene Aggressionen. Und einen äußerst armseligen Versuch, irgendeine Art von internationaler Gerechtigkeit für aktuelle oder vergangene Gräueltaten zu schaffen.
– Aber es gibt genügend Ähnlichkeiten, vor allem in der Art und Weise, wie die israelischen Politiker*innen und die israelische Führung über die Menschen im Gazastreifen sprechen, nicht nur dieses Mal. Das war auch in der Vergangenheit so und ich habe das Gefühl, dass sich das aufgebaut hat und sie in diesem Fall einfach den richtigen Vorwand gefunden haben, um ihre Zerstörung der Palästinenser*innen in die Tat umzusetzen.
F4: Ich möchte Dich fragen, welche praktischen Schritte möglich sind, selbst wenn wir eindeutig beweisen, dass in Gaza ein Völkermord stattfindet? Welches Publikum müssen wir überzeugen? Denn wie Du schon sagtest, sind Sabra und Shatila als Völkermord anerkannt, aber es hat sich buchstäblich nichts daraus ergeben.
- Maha Abdullah
– Ich denke, das ist eine schwierige Frage, die ich wie die meisten Palästinenser*innen vielleicht ein bisschen widersprüchlich beantworten würde.
– Sicherlich gibt es eine Menge Frustrationen mit dem internationalen Recht und seinen Mechanismen, aber auch mit dem internationalen Recht, angefangen mit seinen kolonialen Wurzeln bis hin zur heutigen Umsetzung und Anwendbarkeit durch seine verschiedenen Institutionen.
– Ich glaube nicht, dass wir als Palästinenser*innen uns davon abwenden sollten, und ich glaube nicht, dass wir diesen Raum leer lassen und diesen Kampf anderen überlassen sollten, um ihn zu übernehmen und weiter zu manipulieren.
– Die zahlreichen UN-Resolutionen haben das palästinensische Volk im Stich gelassen, ob sie nun positive oder negative Inhalte haben. Aber sie sind wichtig. Sie sind wichtig für die Geschichte, um Menschen zur Rechenschaft zu ziehen. Und weil Systeme von Menschen geführt werden und Menschen sich ändern. Und wenn wir jahrzehntelang die falschen Leute an der Spitze hatten, dann ist das eben so. Eines Tages – und ich bin sicher, dass sich das ändert – werden wir Menschen haben, die sich wirklich um Gerechtigkeit und Verantwortungsübernahme bemühen.
– Welcher Weg zu nehmen ist? Auf jeden Fall die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Wie Du bereits erwähnt hast, und ich erwähnte, wurden die Massaker an Palästinenser*innen in Sabra und Shatila in der Vergangenheit als Völkermord anerkannt.
– Das Ausmaß und die Intensität der Massaker und der Zerstörung, die heute im Gazastreifen stattfinden und die im Laufe der Jahre durch verschiedene groß angelegte Militäroffensiven verursacht wurden, könnten in die gleiche Kategorie fallen.
– Wir haben eine laufende Untersuchungskommission bei den Vereinten Nationen, die auch die Vorreiterrolle übernehmen und anderen UN-Organen und -Mechanismen ein Vorbild sein sollte, wenn es darum geht, Anzeichen von Völkermord an Palästinenser*innen zu untersuchen und davor zu warnen.
– Wir haben auch einzelne Staaten, die die Völkermordkonvention ratifiziert haben und die sich aktiv um entsprechende Maßnahmen bemühen sollten. Sei es durch die Veröffentlichung von Erklärungen oder Mitteilungen an Israel und andere relevante Akteure, die vor dem Völkermord warnen und ihn verhindern sollen, oder sei es durch ihre nationalen Gerichte, indem Verfahren gegen Einzelpersonen aus der israelischen Regierung oder dem Militär eingeleitet werden, die zum Völkermord anstiften.
– Das ist nicht sehr schwierig, vor allem, wenn wir die zahlreichen Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft betrachten, die im israelischen Militär und in der israelischen Regierung dienen, sei es in Europa, in den Vereinigten Staaten oder anderswo.
F5: Eines der schwierigsten Probleme im Moment ist, dass die Frage des Völkermordes durch diese durchgehende Linie und diese Enthistorisierung und Entpolitisierung, die den palästinensischen Einsatz von Waffengewalt mit den Gräueltaten der Nazis in Verbindung bringen will, unscharf wird. Und die Medien und viele Zionist*innen versuchen zu betonen, dass der palästinensische Einsatz von Waffengewalt in Wirklichkeit gegen alle Juden*Jüdinnen gerichtet ist und einen Völkermord darstellt. Und das ist sehr, sehr schädlich. Können Sie das ansprechen und sagen, wie wir diesen Fall deutlicher machen können?
- Prof. Raz Segal
– Möge bald der Tag kommen, an dem israelische Politiker und Armeeoffizier*innen und in einigen Fällen auch Journalist*innen und andere zur Rechenschaft gezogen werden für das, was wir jetzt ganz deutlich vor unseren Augen sehen. Ich glaube, dass sich diese Institutionen ändern können, weil sich Menschen ändern können. Und wie ich bereits angedeutet habe, denke ich, dass wir in diesen Tagen eine Art Wandel erleben.
– Es geht um die grundlegenden Probleme, die Verquickung eines Volkes, der Juden*Jüdinnen, und eines Staates, Israel, eines Staates, in dem ein Fünftel seiner Bürger*innen Palästinenser*innen und keine Juden*Jüdinnen sind. Und wo sich natürlich viele Juden*Jüdinnen nicht mit Israel identifizieren. Viele Juden*Jüdinnen waren und sind antizionistisch. Viele Juden*Jüdinnen waren und sind keine Zionist*innen. Sie sind Amerikaner*innen oder Brit*innen, oder wer auch immer sie sind. Sie haben kein Interesse an Israel. Sie wollen weder das eine noch das andere. Sie sind nicht anti oder pro, sie sind nicht zionistisch, sie sind Juden*Jüdinnen.
– Diese Vermischung ist sehr, sehr gefährlich. Eigentlich ist sie auch falsch. Die Menschen, die bei dem Hamas-Anschlag angegriffen und getötet wurden, waren israelische Bürger*innen. So müssen wir sie bezeichnen, in erster Linie als israelische Bürger*innen.
– Wir müssen uns daran erinnern, dass es sich hier nicht um einen dekontextualisierten Angriff auf Juden*Jüdinnen handelt. Sicherlich nicht in der Art und Weise, wie wir gesehen haben, dass Juden*Jüdinnen in dieser langen Geschichte der Massengewalt gegen Juden*Jüdinnen zur Zielscheibe wurden.
– Wir haben es hier mit einem mächtigen Staat zu tun, einer Atommacht mit einer der größten Armeen der Welt, die von allen westlichen Mächten unterstützt wird.
– Wir müssen dieses verzerrte Bild der Juden*Jüdinnen, die Nazis gegenüberstehen, diese Art von Propagandabild, auflösen und die Wahrheit darüber sagen, was hier vor sich geht.
– Und wirklich, Maha, ich danke Dir sehr. Ich teile Dein Anliegen, diese Menschen eines Tages vor Gericht zu stellen und zur Rechenschaft zu ziehen.
- Huda Abudagga
– Ich werde keine Statistiken, Zahlen oder Fakten wiederholen, die es vor Ort gibt. Ich denke, wir alle sind uns dessen wohl bewusst.
– Ich werde versuchen, das wiederzugeben, was ich vor Ort höre, und was ich von den Menschen dort höre.
– Alles, was sie im Moment wollen, ist, dass diese Eskalation aufhört, dass die Bombardierungen aufhören.
– Sie verlangen nichts von der Welt, keine humanitäre Hilfe, nichts. Alles, was sie wollen, ist, dass die Bombardierung aufhört, dass die Zerstörung aufhört, dass der Tod aufhört.
– Sie wollen in ihre Häuser zurückkehren. Sie wollen sich aus der Asche erheben und den Gazastreifen wiederaufbauen. Sie brauchen nichts anderes, als dass die Bombardierung aufhört.
– Ich habe das Gefühl, dass ist das Beste, womit ich von vor Ort enden kann. Betet einfach für sie. Sie bitten uns und sie bitten die Welt, etwas zu tun, um dies zu beenden. Und ich hoffe, dass wir einen Weg finden können, dies zu beenden.
Abschließende Stellungnahme: Noura Erakat
– Wir beten für sie, wir kämpfen für sie, und wir kämpfen für uns selbst. Dies ist eine Katastrophe für die gesamte Menschheit. Es ist ein massives Versagen.
– Für diejenigen, die mir immer wieder sagen, dass sie sich aus Angst um ihre Arbeitsplätze und ihren Lebensunterhalt nicht äußern werden. Welchen Wert haben diese Arbeitsplätze und dieser Lebensunterhalt in einer Welt, die absolut versagt und ihre eigene Menschlichkeit verraten hat?
– Lasst uns weiter für einen sofortigen Waffenstillstand, für Gerechtigkeit und Dekolonialisierung kämpfen.
– Vielen Dank an unsere geschätzten Redner*innen, an Professor Raz, an Arnesa, an Maha, an Sourani, an die Organisator*innen dieser Veranstaltung. Möget Ihr die Kraft und die Stärke haben, weiterzumachen. Ich danke Euch. Und vielen Dank an die Dolmetscher*innen, wir können Euch nicht sehen, aber ohne Euch geht es nicht.
_ENDE_
* Hinweis: Dieses Dokument enthält eine komprimierte Zusammenfassung der wichtigsten Standpunkte, Positionen und Analysen, die während der Diskussion geäußert wurden. Diese Perspektiven stellen nicht zwangsläufig die Haltung von Law for Palestine oder unserer Partnerorganisationen dar.
Unser Ziel ist es, die Worte der Referent*innen genau so wiederzugeben, wie sie gesprochen wurden. Für genaue Zitate der hier zitierten Aussagen ist es jedoch unerlässlich, die Aufzeichnung der Veranstaltung heranzuziehen und die Worte der Referent*innen direkt anzuhören.
[1] Präsident der Republika Srpska (1996)